Elisabeth Daniela Weissitsch
Unsichtbar. Die meisten behinderten Menschen sind unsichtbar, oder ihre Behinderungen sind nicht (gleich) zu erkennen. Ich möchte hier einige Situationen schildern, um den Kontrast zwischen unsichtbaren Behinderungen und der Realität des Alltags von Menschen mit solchen Herausforderungen zu verdeutlichen.
Menschen, die schlecht sehen können und deshalb oft nicht bemerken, wenn ihnen jemand zuwinkt, werden manchmal als unfreundlich wahrgenommen. Wie muss sich ein Autist fühlen, der oft keine Gesichter erkennen oder Gesichtsausdrücke lesen kann? Wie wird eine autistische Person deshalb wahrgenommen?
Wo sind die Menschen mit ADHS? Wie sieht Diabetes und Epilepsie aus? Welche Bilder haben wir automatisch im Kopf? Weint jeder depressive Mensch?
Unsichtbar. Für einen Menschen mit Schmerzen ist es eine Herausforderung, jeden Tag aufzustehen. Niemand sieht, wie schwierig es ist, den Haushalt zu führen, Lebensmittel einzukaufen oder den Weg zur Arbeit zu gehen. Wenn man in der Kantine Schlange stehen muss, wenn man eine Dose oder eine Flasche öffnen will und es nicht selbst tun kann.
Manche Krankheiten sind nicht nur unsichtbar, sondern verändern sich auch in ihrem Ausmaß (das nennt man Tagesverfassung). Das macht es für Außenstehende noch schwieriger, sie zu verstehen. Die vermeintlich behinderte Kollegin ging zum Beispiel am Wochenende tanzen und ein paar Tage später kann sie kaum noch gehen. Das ist „normal“ für Menschen mit einer Autoimmunerkrankung, sei es Multiple Sklerose, Formen der rheumatoiden Arthritis oder Morbus Crohn.
Viele Menschen mit Fatigue (ME/CFS) oder schweren Erkrankungen werden nicht gesehen, weil sie kaum am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die Behinderung ist unsichtbar, wenn man nach der Arbeit nicht auf einen Drink geht, oder wenn man es generell nicht außer Haus schafft. Wenn man nicht zu Plux gehen kann (das ist der Luxemburger Platz, auf dem sich junge Leute jeden Donnerstag in Brüssel nach der Arbeit treffen, siehe Bild unten), wenn man die Ausschusssitzungen und den Straßburg-Ausflug verpasst, ist man dann überhaupt eine Praktikantin in Brüssel?
Man ist einfach nicht da.
Viele Formen von Behinderungen sind hier im Europäischen Parlament und in den anderen Institutionen nur selten „zu finden“. Das liegt nicht immer an der Sichtbarkeit, sondern auch daran, dass auf nationaler Ebene viele Menschen nicht die Ausbildung bekommen, die sie brauchen, um später hier als Angestellte zu landen. Aber es gibt auch viele Menschen in unseren Reihen, die keine Anzeichen einer Behinderung zeigen, aber eine haben. Ist es ein junger Mensch, der den Lift nur für eine Etage benutzt, oder ist es derjenige mit einer FFP2-Maske, der wahrscheinlich ein schwaches Immunsystem hat? Erkennst oder kennst du sie?
Manche Behinderungen sind auch unsichtbar, weil es ein Tabu ist, darüber zu sprechen, oder weil man sich selbst unwohl fühlt oder andere in Verlegenheit bringt. Hier überschneiden sich zum Beispiel Geschlecht und Behinderung. Über Bauch- oder Kopfschmerzen kann man offen sprechen – der Schmerz wird sichtbar. Denn jeder hat schon einmal etwas Schlechtes gegessen oder Kopfschmerzen gehabt und kann es sich daher vorstellen.
Aber wenn 10 % der Frauen an einer unsichtbaren Krankheit leiden, die die Gebärmutter betrifft (z. B. Endometriose), ist es schwer, darüber zu sprechen. Unsichtbare Krankheiten werden daher an sich unsichtbar und werden daher oft nicht diagnostiziert, weil die Menschen nicht darüber sprechen.
Der gemeinsame Nenner aller unsichtbaren Krankheiten ist, dass man darauf angewiesen ist, dass andere einem glauben.
Niemand zweifelt an der Diagnose Krebs. Aber die Menschen neigen dazu, das anzuzweifeln, was sie nicht sehen können.
Unsichtbar sind natürlich auch die Barrieren für Menschen mit motorischen und sensorischen (und damit sichtbaren) Behinderungen. Diese werden immer noch als die „klassischen“ oder „echten“ Behinderungen wahrgenommen. Ich spreche hier von Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, von blinden, gehörlosen Menschen und so weiter. Es gibt noch so viel zu tun, um die Umwelt für sie zugänglich und somit barrierefreier zu machen, obwohl ihre Behinderung sichtbar ist und die Menschen eigentlich schon davon gehört haben. (Auch das ist manchmal ein Problem, denn sie können es nie verbergen).
Eine Gehsteigkante für Rollstuhlfahrer ist ein Problem, ganz gleich, wie andere sie wahrnehmen. Genauso wie die Schmerzen für einen Menschen mit einer chronischen Krankheit, die Müdigkeit, die Nebenwirkungen von Medikamenten, Arztbesuche und so weiter.
Unsichtbar sind aber auch die Behinderungen, die Menschen mit offensichtlichen Behinderungen haben. Allzu oft wird nicht mit Rollstuhlfahrern selbst gesprochen, sondern mit ihren Assistenten (??!). Intelligenten Menschen werden ihre Fähigkeiten abgesprochen, weil man sie nicht sehen kann. Die Menschen konzentrieren sich dann auf die offensichtliche Beeinträchtigung und auf nichts anderes. Jemand braucht vielleicht eine Rampe, um ein Gebäude zu betreten, aber es mangelt nicht an Intelligenz oder Kompetenz.
Andere Fähigkeiten, die jemand beispielsweise mit einer Lernbehinderung mitbringt, werden auch unsichtbar. Außerdem werden diese Einschränkungen als Maßstab für alles genommen, und viele Talente und Potenziale werden dadurch weggenommen, weil man in der Schule immer gleich gut lesen, schreiben und rechnen können muss, während man vielleicht ein großes Gesangstalent ist oder ein Talent für öffentliche Reden oder Handwerkliches hat.
Unsichtbar bleibt man, wenn man sich nicht sichtbar macht.
Deshalb spreche ich über unangenehme Sachen.
Über Krankheit, Schmerzen und Dinge, die man nicht mehr tun kann, wie 5 Minuten stehen oder eine Dose öffnen. Man bleibt unsichtbar, wenn man nicht laut, rebellisch und mit viel Leidenschaft aufweist, wo es noch Barrieren und Baustellen gibt.
Auf der Straße und in unseren Köpfen.