Lockdown wozu?

Eines vorweg. Dieser Artikel handelt nicht von Maßnahmen, die in Schulen gesetzt werden „hätten können“, von Varianten, dass in das Gesundheitssystem investiert „hätte werden können“ oder anderen Konjuktiv- Möglichkeiten, die solche drastischen Massenquarantänen überhaupt verhindert „hätten“. Ich spreche hier rein vom aktuellen Ist-Stand. Es gibt eine hohe Anzahl von täglichen Neuinfektionen, eine Überlastung in Krankenhäusern und ja, es nervt alle und jeder*jede von uns glaubt zu wissen, was „hätte besser gemacht werden können“ (ob das dann tatsächlich so gewesen wäre, werden wir nie erfahren).

Ich schreibe hier auch nicht von den gesamtgesellschaftlichen Folgen, die entstehen, wenn das System zu bröckeln beginnt (z.B. Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, fehlende Medikamente, Steigerung der Krankheitszahlen, Ausfälle von Personen in sämtlichen Berufssparten, fehlendes Personal in Supermärkten, Plünderungen, fehlendes Sicherheitspersonal etc. etc.).

Auch ist dieser Artikel kein Loblied an das Mittel „Lockdown“, ich leide genau so, wie andere unter der Einsamkeit, möchte aber Folgendes erläutern:

Was passiert, wenn das Gesundheitssystem kollabiert

„In einigen Ländern droht eine Überlastung des Gesundheitssystems, die dazu führen würde, dass auch Patienten mit anderen Erkrankungen nicht mehr behandelt werden könnten.“

Der Standard im März – jetzt (leider) wieder aktuell.

Covid-Intensiv Patient*innen benötigen mehr Personal und wesentlich mehr Tage zur Genesung (13-14 Tage) als andere Intensiv-Patient*innen. Es gab bereits vor Covid einen massiven Ärzte*Ärztinnenmangel und enorme Engpässe im Gesundheitssystem. Dann werden eben Operationen verschoben, Behandlungen hinausgezögert, und Menschen sterben an anderen Vorerkrankungen oder leiden an Folgeschäden, durch fehlende rasche Behandlungen. Das ist der Grund, weshalb man einen Lockdown einführt- sind die Kapazitäten erschöpft, bricht das gesamte System zusammen. Und das kostet einem Staat wesentlich mehr Geld, als die Wirtschaft für ein paar Wochen mit Fördergeldern zu versorgen (Hier findet ihr übrigens die Höhe der Fonds seitens der EU, die für die Covid-Pandemie bereit gestellt werden).

Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Intensivmedizin nicht nur Personen über 90 betrifft:

„Das betrifft Covid Patienten und das betrifft nicht Covid Patienten. Also auch jeden Herzinfarkt, jede Hirnblutung, jeden schweren Unfall.“

Wolfgang List, Leiter Intensivstation LKH Feldkirch

Wenn ein mir nahestehender Mensch nicht mehr behandelt werden kann (beispielsweise nach einem schweren Autounfall) und deshalb stirbt, ich weiß nicht, wie ich dann in Zukunft auf „Covidioten“ reagieren würde… Fragt einmal einen Unfallchirurgen, was das Durchschnittsalter der Personen ist, die als Akutfälle notoperiert werden.

Alternativen zum Lockdown

Überlegt euch (fiktiv) die Alternative zum Lockdown in eurem persönlichen Umfeld: die Oma stirbt, zwei Tage später der Opa, die gute Freundin mit der Vorerkrankung ein paar Wochen später und der andere liegt schwer krank zu Hause. Er kann nicht behandelt werden, da es noch akutere (noch schlimmere) Fälle gibt und erleidet möglicherweise lebenslange Schäden. Die Lebensgefährtin kann nicht arbeiten gehen, weil es keine Regelungen für Personen mit erhöhtem Risiko gibt, sie ist aber hochschwanger. Der Arbeitskollege wurde gekündigt, weil er mit dem erhöhten Risiko nicht arbeiten gehen kann. Hunderttausende arbeitslose Risikogruppenzugehörige leben von Mindestsicherung oder Arbeitslosengeld. Andere wurden obdachlos, weil sie nicht anspruchsberechtigt sind.

„Natürlich können wir ernsthaft den darwinistischen Weg diskutieren und anzutreten versuchen: Sterben eben die Alten und Schwachen (viel) früher, wie manche Hobbyphilosophen besser für die Wirtschaft fänden. Selbst wenn man das moralisch nicht für verwerflich hält: Das würde weder unsere Gesellschaft noch die Politik aushalten, somit wird es nicht passieren.“

Rainer Nowak, Chefredakteur der Presse

Wer darf leben?

Überlegt euch selbst, bevor ihr jetzt noch immer Partys feiert:

wem würdet ihr Vorrang (in der medizinischen Behandlung) geben: einer Person wie mir, die ein Leben lang schon mit Krankheiten kämpft (Vorerkrankungen) und jede weitere Infektion das Leben massiv verschlechtert (potentielle Gefahr von schweren Folgeschäden). Noch bevor ich ins Arbeitsleben eintrete, könnte ich schon zum Pflegefall werden (wir wollen ja jetzt positiv denken und nicht davon ausgehen, dass mich Covid tatsächlich auch umbringen würde). Oder bekäme eine Person aus der Eltern- oder Großelterngeneration Vorrang, welche durch Covid (möglicherweise) früher sterben würde? Oder wäre eine Person, die gerade einen Motorradunfall hatte, vorrangig?

Lissi?

„Dann muss man auch wenn es hart auf hart kommt eventuell Therapien bei Patienten beenden, wenn ein anderer Patient da ist, der eine größere Überlebenschance hat.“

Wolfgang List, Leiter Intensivstation LKH Feldkirch

Will sich eigentlich irgendjemand solche Fragen stellen? Ich nicht.

Man könnte meinen Artikel hier bereits beenden, weil das mehr oder weniger die derzeitige Lage subsummiert. Ihr kennt mich aber und ich versuche meist mit anschaulichen Beispielen aus meinem eigenen Leben Vergleiche aufzuzeigen.

Erzählungen aus meinem Leben

Ich habe Mitte Dezember eine Operation geplant. Das ist kein lebensnotwendiger Eingriff und wird deshalb gegebenenfalls abgesagt, sollten die Krankenhaus-Kapazitäten aufgrund von Covid-Fällen erschöpft sein. Das bedeutet aber dennoch, dass eine medizinisch notwendige Operation aufgeschoben wird, sprich ich muss die Schmerzen noch länger aushalten.
Zudem muss ich wichtige Medikamente pausieren (jene immunsystemschwächenden Mittel, die mich zur Risikopatientin machen), damit so ein Eingriff überhaupt stattfinden kann (zur Erinnerung, Risikopatient*innen sind nicht nur von Covid gefährdet). Wird der Termin abgesagt oder verschoben, habe ich noch mehr Schmerzen zu ertragen und möglicherweise Auswirkungen auf den gesamten Körper, wie Entzündungen, Fehlstellungen, Abnützungen usw. Im schlimmsten Fall löst die Unterbrechung der Therapie einen weiteren Krankheitsschub aus, der mich mehrere Wochen bis Monate außer Gefecht setzt, Schäden in den Gelenken und Organen verursacht, weitere Medikamente eingenommen werden müssen und eine rasche Nachholung der Operation unmöglich macht, weil der Körper dann zu schwach ist. (All das kostet dem System Geld und mir Kraft).

Meine notwendige Spritze. Für Operationen muss ich diese Therapie im Vorfeld abbrechen.

Ein anderes Beispiel, das ein Jahr vor Corona so passiert ist: eine Operation von mir wurde spontan verschoben (ich war bereits OP-fertig), weil vergessen wurde, dass ich Risikopatientin bin und es bei mir nicht „egal“ ist weil ich ja „jung bin“. Jeder Tag ohne meine Medikamente ist gefährlich und der „nüchterne“ Zustand über zwei Tage hat bei mir eine wochenlang andauernde Gastritis ausgelöst (was dem System wieder Geld kostet und mir Lebensqualität). All das ist nicht förderlich, wenn man eigentlich sowieso ziemlich krank ist und sich von einer Operation erholen müsste (die ja auch Schmerzen und Erschöpfung verursacht…).

Verschobene Operationen sind kein Spaß.
Danach konnte ich ein paar Wochen nur mehr Haferschleim essen.

Ein weiteres Beispiel ist, dass ich mich aufgrund des Ärzt*innenmangels seit dem Sommer in bestimmten Bereichen selbst therapieren muss, da niedergelassene Fachärzt*innen keine Termine frei haben und ein Besuch im Krankenhaus nicht möglich ist, weil ja die Kapazitäten ausgelastet sind oder das Risiko für mich zu hoch ist. Wie machen das ältere Personen, mit weniger Zugang zu Informationen oder wenn das Problem einfach ignoriert oder verschoben wird (z.B. Krebsfrüherkennung)?
In der Folge kostet dies wiederum mehr Geld, da die Folgeschäden behandelt werden müssen.

Bricht das Gesundheitssystem zusammen, leiden aber andere Personen noch mehr als ich. Personen, die nicht in einem guten sozialen Netz aufgehoben sind und Hilfe bekommen, Personen ohne Zugang zu Medikamenten oder Information, Personen, die sich nicht „einfach so selbst behandeln“ können. Und alle jene, die noch viel schwerere Erkrankungen haben, als ich, wo ein Aufschub von Therapien oder Operationen auch tödlich sein kann.

Der Blick aus dem AKH in Wien. Keine schönen Aussichten.

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